Zur Verletzung der Aufsichtspflicht
Ferdinand Bachinger
Admin | 01. Oktober 2023
OGH vom 17.7.2023, 5 Ob 67/23y:
Am 16. Jänner 2021 kam es auf einem Rodelhang zu einem Zusammenstoß zwischen den auf einem Plastikbob sitzenden siebenjährigen Zwillingen des Beklagten und dem auf der Rodelpiste stehenden Kläger. Der Rodelhang (Hügel) wird seit Jahrzehnten von Familien und insbesondere von Kindern zum Rodeln verwendet. Der Kläger war kurz zuvor zu seiner 16-jährigen Tochter gelaufen, weil er gesehen hatte, dass sie im flachen Teil des Rodelhangs gestürzt war. Er blieb dort kurz stehen und unterhielt sich mit seiner unverletzten Tochter, wobei er talwärts schaute und die im Abstand von ein paar Sekunden abfahrenden Kinder aller Altersklassen nicht beachtete. Der Beklagte, der seinen Kindern vom Rand der Piste aus beim Rodeln zuschaute, sah den auf dem Rodelhang stehenden Kläger erst unmittelbar vor der Kollision.
Der Kläger begehrte Schmerzengeld sowie die Feststellung der Haftung des Beklagten für alle künftigen unfallkausalen Folgeschäden.er Beklagte wendete im Wesentlichen ein, der Kläger sei mitten auf der Rodelbahn gestanden; weder der Beklagte noch seine Kinder hätten den Zusammenstoß verhindern können.
Das Erstgericht wies die Klage ab.
Die Kinder des Beklagten hätten Übung im Umgang mit dem von ihnen verwendeten Bob gehabt und seien angewiesen worden, erst loszufahren, wenn die Piste frei ist. Der Beklagte und seine Frau hätten ihre Kinder durchgehend beobachtet. Der Beklagte habe nicht damit rechnen müssen, dass sich der Kläger in die Rodelstrecke begeben, dort stehen bleiben und dem Rodelgeschehen keine Aufmerksamkeit widmen würde. Es sei davon auszugehen, dass der Kläger den Kindern des Beklagten hätte ausweichen können, wenn er den Rodelverkehr beachtet hätte. Der Beklagte habe seine Aufsichtspflicht nicht verletzt.
Das Berufungsgericht bestätigte die Entscheidung.
Der von den Kindern des Beklagten verwendete Bob (mit zwei Plastikgriffen zum Lenken und Bremsen) sei „allgemein gebräuchlich“ und die beiden seien unmittelbar zuvor jeweils einzeln mit ihrer 17-jährigen Schwester gemeinsam darauf gerodelt. Außerdem seien die beiden auch schon früher ohne Probleme gerodelt. Der Beklagte habe seine Aufsichtspflichten nicht verletzt, indem er seinen siebenjährigen Kindern nicht das Rodeln verboten habe. Überschießende Feststellungen habe das Erstgericht entgegen den Behauptungen der Berufung nicht getroffen.
Das Maß der Aufsichtspflicht im Sinn des § 1309 ABGB bestimmt sich danach, was angesichts des Alters, der Eigenschaft und der Entwicklung des Aufsichtsbedürftigen vom Aufsichtsführenden vernünftigerweise verlangt werden kann. Das Maß der gebotenen Sorgfalt bei Bestehen einer Aufsichtspflicht ist jeweils danach zu beurteilen, wie sich ein „maßgerechter“ Mensch in der konkreten Situation des Aufsichtspflichtigen verhalten hätte. Konkret vorhersehbare Gefahren sind zu vermeiden. Für das Ausmaß der Aufsichtspflicht sind immer die besonderen Verhältnisse des einzelnen Falls maßgeblich. Die Frage, ob eine Aufsichtspflichtverletzung vorliegt, hängt daher stets von den Umständen des Einzelfalls ab und ist in der Regel nicht erheblich im Sinn des § 502 Abs. 1 ZPO.
Auch die Frage, ob eine aufsichtsführende Person, die zwei Kindern gemeinsam das Rodeln in einem Plastikbob auf einer Rodelwiese ermöglicht, dadurch ihre Aufsichtspflicht verletzt, lässt sich nur aufgrund der konkreten Umstände des Einzelfalls beantworten. Dabei sind etwa das Alter, die körperliche Konstitution und bisherige Erfahrung der Kinder, die Schnee- und Sichtverhältnisse und die Beschaffenheit des Bobs von wesentlicher Bedeutung. Allgemeine Grundsätze lassen sich zur Beurteilung dieser Frage hingegen nicht aufstellen.
Unsere Meinung dazu
Eine sachgerechte Entscheidung der Unterinstanzen und des OGH. Siebenjährigen Kinder auf einem handelsüblichen Bob, die bereits Erfahrung damit haben, muss man auf einem einfachen Hang das Rodeln nicht verbieten, um seiner Aufsichtspflicht nachzukommen. Eine andere Wertung wäre wohl kaum verständlich. Zudem hat das "Opfer" mitten auf der Piste gestanden und nicht nach oben geblickt. Ein wenig Selbstverantwortung schadet kaum, wenn man zu Fuß auf eine Piste läuft, die von Kindern verschiedenster Altersgruppen zum Rodeln genutzt wird.