Hinüberwachsen von Wurzeln

Ferdinand Bachinger
Admin | 27. April 2025
OGH vom 27.02.2025, 8 Ob 3/25m:
[1] Der Kläger nimmt die Beklagte auf Ersatz von (nach den Feststellungen vorhandenen) Schäden an der Entwässerungsrinne und von (nach den Feststellungen nicht vorhandenen) Schäden an der asphaltierten bzw gepflasterten Fläche seines Grundstücks in Anspruch, die – seinem Vorbringen nach – durch Wurzeln von Bäumen verursacht wurden, die auf der der Beklagten gehörenden Nachbarliegenschaft stehen oder vormals standen.
[2] Das Erstgericht traf – soweit für das Verständnis dieses Beschlusses von Bedeutung – folgende Feststellungen:
„Die Asphaltfläche sowie die gepflasterte Fläche des Klägers weist in diesem Bereich keine Schäden auf. Eine Wölbung durch allfällig darunterliegende Wurzeln [ist] nicht erkennbar. Auch am sonstigen Grundstück des Klägers zum Grenzbereich des Grundstückes der Beklagten sind keine oberirdischen Wurzeln sichtbar. Der Beklagten war und ist nicht bewusst, dass von dem von ihr gepflanzten, mittlerweile gefällten, Baum Wurzeln in oder auf das Grundstück des Klägers wachsen. Auch das Wurzelverhalten des von ihr gesetzten Baumes war und ist der Beklagten nicht bekannt. Im Bereich der östlich vorhandenen weiteren Bäume, die parallel zur Grundgrenze auf dem Grundstück der Beklagten gepflanzt wurden, sind ebenfalls keine oberflächlichen Wurzeln oder offensichtlich daraus resultierende Beschädigungen auf dem Grundstück des Klägers ersichtlich.“
[3] Das Berufungsgericht bestätigte die Abweisung der Klage durch das Erstgericht mit der wesentlichen Begründung, das Setzen von Bäumen an der Grenze sei nicht rechtswidrig und der Beklagten sei eine Gefährdung der Infrastruktur des Nachbargrundes durch das Wurzelwerk ihrer Bäume nicht erkennbar gewesen. Ob Wurzeln der Bäume der Beklagten tatsächlich die Liegenschaft des Klägers schädigten, könne offenbleiben, weshalb es nicht schade, dass das Erstgericht den diesbezüglichen Beweisanträgen des Klägers nicht entsprochen habe.
Rechtliche Beurteilung
[4] Der Kläger zeigt in seiner außerordentlichen Revision keine wesentliche Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO auf.
[5] Auswirkungen der natürlichen Beschaffenheit des Nachbargrundstücks sind vom beeinträchtigten Grundnachbarn hinzunehmen. Mit Eigentumsfreiheitsklage nicht abwehrbar sind daher natürliche Einwirkungen, also solche, die nicht auf menschliches Handeln, sondern allein auf Naturvorgänge zurückzuführen sind (8 Ob 79/13w [Pkt 3.2. und 4.1.]). Das Wachsen von Bäumen oder Pflanzen wird grundsätzlich als ein natürlicher Vorgang gesehen (10 Ob 47/13d [Pkt B.3.]). Zumindest in der Regel ist daher das Herüberwachsen(-lassen) von Wurzeln und Ästen gerade nicht als unmittelbare – und damit nach § 364 Abs 2 Satz 2 ABGB untersagbare – Zuleitung zu qualifizieren (10 Ob 22/21i [Rz 29 und 36]) und kann auch sonst grundsätzlich nicht untersagt werden (5 Ob 19/24s [Rz 39]). Es besteht nach der Rechtsprechung auch keine Verpflichtung, Bäume oder sonstige Pflanzen nicht in Grenznähe oder an der Grundgrenze zu setzen oder Wurzeln und Äste „rechtzeitig“ abzuschneiden (10 Ob 47/13d [Pkt B.3.]). Vielmehr ist jeder Grundeigentümer grundsätzlich berechtigt, an der Grundstücksgrenze Pflanzungen vorzunehmen und Äste und Wurzeln in fremdem Luftraum bzw Boden wachsen zu lassen. Derartige Eingriffe in das Eigentumsrecht des angrenzenden Grundeigentümers sind daher grundsätzlich hinzunehmen (5 Ob 19/24s [Rz 47]).
[6] Ein Unterlassungs- und Beseitigungsanspruch kann im Einzelfall aber bestehen, wenn die Beeinträchtigung unter Bedachtnahme auf das nachbarrechtliche Rücksichtnahmegebot des § 364 Abs 1 Satz 2 ABGB iSd § 364 Abs 2 Satz 1 ABGB die ortsübliche Benutzung des Grundeigentums wesentlich beeinträchtigt und einen unzumutbaren Zustand herbeiführt, der nicht durch eine leichte und einfache Ausübung des Selbsthilferechts nach § 422 ABGB beseitigt werden kann, oder wenn Bäume und Pflanzen eine konkrete – und für den Nachbar wiederum selbst nicht leicht abzustellende – Gefahr für Sachen oder Leib und Leben am Nachbargrundstück darstellen (4 Ob 196/07p [Pkt 2.7.]; 10 Ob 47/13d [Pkt B.6. und B.7. mwN]; 5 Ob 19/24s [Rz 38]).
[7] Wird gegen einen solchen Anspruch verstoßen, kann dies eine Schadenersatzpflicht nach sich ziehen, dies aufgrund des Verschuldensprinzips aber nur dann, wenn die Pflichtverletzung dem Baum- bzw Pflanzeneigentümer vorwerfbar ist. Voraussetzung hierfür ist, dass für den Baum- bzw Pflanzeneigentümer die seine Unterlassungs- oder Beseitigungspflicht begründenden Umstände – somit zB die dem anderen drohende konkrete Gefahr für dessen Sachen oder Leib und Leben – erkennbar waren (idS 1 Ob 4/22b [Rz 9]). Die „erkennbare Schädigung“ ist Ursache und gleichzeitig Grenze der Unterlassungs- und Beseitigungspflicht (1 Ob 4/22b [Rz 9]).
[8] An dieser Rechtsprechung hat sich das Berufungsgericht orientiert. Sein Verständnis der – insofern oben wiedergegebenen – Feststellungen dahin, dass für die Beklagte nicht erkennbar war, dass das Wurzelwerk ihrer Bäume eine konkrete Gefahr für die Infrastruktur des Grundstücks des Klägers darstellt, ist jedenfalls vertretbar (RS0118891). Wenn das Berufungsgericht in Konsequenz dessen eine Verpflichtung der Beklagten zum Schadersatz verneint, so bewegt es sich im Rahmen der höchstgerichtlichen Rechtsprechung.
[9] Die in der Zulassungsbeschwerde relevierte Frage, „ob aufgrund des unmittelbaren Pflanzens eines Baumes im Grenzbereich zu einem Nachbargrundstück der Eigentümer des Baumes auf einen Wurzelschlag auf das Grundstück des Nachbarn schließen muss“, ist nicht erheblich iSd § 502 Abs 1 ZPO. Es wurde – wie dargestellt – nämlich vom Obersten Gerichtshof bereits geklärt, dass das Setzen eines Baumes im Grenzbereich nicht rechtswidrig ist (10 Ob 47/13d [Pkt B.3.]). Zudem wurde bereits höchstgerichtlich entschieden, dass aus dem bloßen Umstand, dass an der Oberfläche eine Wurzel zum Nachbargrundstück hin sichtbar ist, noch nicht auf ein rechtswidriges Verhalten durch Weiterwachsenlassen der Wurzel geschlossen werden kann (1 Ob 4/22b [Rz 9]). Umso weniger muss davon ausgegangen werden, dass das Setzen eines Baumes an der Grenze zwingend zu einer Beeinträchtigung des Nachbargrundstücks führen wird.
[10] Das Pflanzen eines Baumes an der Grenze kann für sich auch noch nicht als Verletzung des nachbarrechtlichen Rücksichtnahmegebots nach § 364 Abs 1 Satz 2 ABGB gesehen werden. Diesfalls läge nämlich genauso spiegelbildlich eine Verletzung der genannten Rechtspflicht vor, wenn man in Grenznähe sein Grundstück asphaltiert, würde man doch dadurch eine Situation schaffen, die es dem anderen verbietet, auf seinem Grundstück in Grenznähe Bäume zu pflanzen, deren Wurzelwerk hierauf den Asphalt zu beschädigen drohte. Wo – wie hier – eine Interessenabwägung nicht klar zugunsten des Nachbarn ausschlägt, muss es beim Grundsatz bleiben, dass der Grundeigentümer aufgrund von § 354 ABGB befugt ist, mit seiner Liegenschaft nach Willkür zu schalten, somit nach Belieben auf ihr aus ästhetischen oder klimatischen Gründen Bäume zu pflanzen oder aus Zweckmäßigkeitsgründen eine Asphaltierung oder Pflasterung vorzunehmen (vgl 2 Ob 179/12f [Pkt 4.3.] und Kerschner/Wagner in Fenyves/Kerschner/Vonkilch, Klang3 [2011] § 364 Rz 38; zur allgemein anerkannten Funktion des nachbarrechtlichen Rücksichtnahmegebots als restriktiv zu handhabendes Korrektiv in besonders gelagerten Einzelfällen siehe – je mwN – Kerschner/Wagner aaO Rz 40; Winner in Rummel/Lukas, ABGB4 [2016] § 364 Rz 5; Oberhammer/Scholz-Berger in Schwimann/Kodek, ABGB5 III [2020] § 364 Rz 2).
[11] Da selbst ausgehend von einer Kausalität der Wurzeln der Bäume der Beklagten für Schäden des Klägers deren Schadenersatzpflicht zu verneinen ist, bedurfte die Kausalität keiner abschließenden Klärung.
[12] Einer weiteren Begründung bedarf dieser Beschluss nicht (§ 510 Abs 3 ZPO).
Unsere Meinung dazu
Diese OGH-Entscheidung beantwortet eine häufige und zentrale Frage im Nachbarrecht. Auswirkungen der natürlichen Beschaffenheit des Nachbargrundstücks sind vom beeinträchtigten Grundnachbarn hinzunehmen. Mit Eigentumsfreiheitsklage nicht abwehrbar sind daher natürliche Einwirkungen, also solche, die nicht auf menschliches Handeln, sondern allein auf Naturvorgänge zurückzuführen sind. Das Wachsen von Bäumen oder Pflanzen wird grundsätzlich als ein natürlicher Vorgang gesehen. Grundeigentümer sind daher grundsätzlich berechtigt, an der Grundstücksgrenze Pflanzungen vorzunehmen und Äste und Wurzeln in fremdem Luftraum bzw. Boden wachsen zu lassen. Derartige Eingriffe in das Eigentumsrecht des angrenzenden Grundeigentümers sind grundsätzlich hinzunehmen.
So weit so gut. Zur angesprochenen Selbsthilfe gemäß § 422 ABGB macht der OGH allerdings keine Ausführungen. Wenig beleuchtet bleibt damit die Frage, unter welchen Umständen und auf welche Art und Weise Wurzeln entfernt werden dürfen, die vom Nachbargrundstück herüberwachsen.