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Grobe Fahrlässigkeit iSd § 61 VersVG

Grobe Fahrlässigkeit iSd § 61 VersVG

OGH vom 24.10.2023, 7 Ob 106/23y:
Die Klägerin ließ im Laufe des Jahres 2014 den in der Sicherheitsbeschreibung angeführten elektronischen Ladeneingangstüröffner installieren. Die Sicherheitsbeschreibung gab keine Verbesserungs- oder Änderungsanordnungen bezüglich der Ausgestaltung des Türrahmens bzw der Türzarge vor; auch gab es keine ausdrücklichen Anweisungen dahingehend, dass etwa das Dekorieren der Auslagenscheibe noch vor dem laufenden Geschäftsbetrieb stattzufinden habe. Trotz der elektronisch verschlossenen Eingangstür zum Geschäftslokal konnte die Eingangstür zum Geschäft der Klägerin mit sehr geringem Kraftaufwand durch bloßes Aufdrücken/leichtes Zur-Seite-Drücken der Zarge geöffnet werden. Das war weder dem Geschäftsführer der Klägerin noch dem die Maßnahmen kontrollierenden Versicherungsvertreter bewusst.

Am 22. 9. 2020 – kurz nach Ladenöffnung – dekorierte die Angestellte die hell erleuchteten Auslagen mit dem Rücken zur Tür mit Schmuckstücken; zu diesem Zweck war die Tür des Tresors offen. Der vor der Tür vorhandene Rollbalken war zu diesem Zeitpunkt nicht heruntergelassen. Zwei unbekannte Täter verschafften sich gewaltsam mit einem Werkzeug (Schraubendreher) Zutritt zum Geschäftsraum, in dem sie dieses Werkzeug zwischen Türblatt und Türrahmen schoben und auf diese Weise die mit der elektronischen Falle verschlossene, jedoch nicht mit dem Schlüssel versperrte Geschäftseingangstür überwanden. Der Überfall dauerte 40 Sekunden; die Täter entkamen unerkannt. Zum Zeitpunkt des Überfalls trug die im Geschäft anwesende Angestellte – mit Duldung des Geschäftsführers der Klägerin – keinen Alarmtaster.

Die exakte Höhe des entstandenen Schadens aufgrund des Raubüberfalls lässt sich aufgrund lückenhafter Inventarführung der Klägerin nicht genau feststellen, weil die Klägerin der Beklagten keine Unterlagen zur Verfügung stellte, die den Grundsätzen ordnungsgemäßer Buchführung entsprachen.

Die Klägerin informierte die Beklagte über die Unmöglichkeit einer konkreten Zuordnung der entwendeten Teile auf den betroffenen Tableaus sowie über die Unmöglichkeit der Übersendung der Inventuren für die Jahre 2013 bis 2018, weil die Aufzeichnungen nach Durchführung der Inventur entsorgt wurden. Zusätzlich übermittelte die Klägerin die Einkaufsrechnungen bzw die Karteikarten (wenn keine Einkaufsrechnungen verfügbar waren) für die betroffenen Waren als Nachweis der Richtigkeit der Schadensaufstellung, die Bilanzen der Jahre 2016 bis 2019 und die Jahresabschlüsse für die Jahre 2014 bis 2015.

Die Klägerin begehrt Ersatz des beim Raubüberfall entstandenen Schadens im Ausmaß von 90.392,56 EUR.

Die Beklagte wendet die Verletzung sowohl sicherheitsrelevanter Obliegenheiten als auch solcher vor und nach dem Versicherungsfall hinsichtlich Buchführung und Inventar sowie die grob fahrlässige Herbeiführung des Versicherungsfalls ein.

Das Erstgericht wies die Klage – nach Einschränkung auf den Grund des Anspruchs – wegen der grob fahrlässigen Herbeiführung des Versicherungsfalls ab. Es wertete die leicht aufzudrückende Tür und den nicht heruntergelassenen Rollbalken, vor allem aber das Dekorieren in der Öffnungsphase und das Nicht-Tragen des Alarmtasters durch die Angestellte – mit Billigung des Geschäftsführers – als jedenfalls in Summe grob fahrlässig.

Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung, ging aber nur auf die Obliegenheiten zur Buchführung ein. Da die Streitteile österreichisches Recht vereinbart hätten, seien die Verweise auf das deutsche Recht unbeachtlich, es gelte § 6 VersVG. Nach den Feststellungen seien diese Obliegenheiten sogar vorsätzlich verletzt worden. Die Obliegenheitsverletzung stützte es auf die Feststellung, es wären keine Unterlagen zur Verfügung gestellt worden, die den Grundsätzen ordnungsgemäßer Buchführung entsprochen hätten.

In einer Hilfsbegründung erachtete es das Klagebegehren als unschlüssig, weil der Schaden nicht detailliert dargestellt worden sei und dazu auch nicht auf eine Urkunde verwiesen worden sei.

Dagegen richtet sich die Revision der Klägerin mit dem Antrag auf Abänderung in ein stattgebendes Zwischenurteil dem Grunde nach; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die Beklagte beantragt in ihrer vom Obersten Gerichtshof freigestellten Revisionsbeantwortung, die Revision zurückzuweisen, hilfsweise, ihr nicht Folge zu geben.

Die Revision ist zulässig und im Sinne ihres Aufhebungsantrags auch berechtigt.

Nach § 61 VersVG ist der Versicherer von der Verpflichtung zur Leistung frei, wenn der Versicherungsnehmer den Versicherungsfall vorsätzlich oder durch grobe Fahrlässigkeit herbeiführt. Es handelt sich dabei um einen (verhaltensabhängigen) Risikoausschluss. Wird der Risikoausschluss des § 61 VersVG behauptet, so muss der Versicherer auch die grobe Fahrlässigkeit des Versicherungsnehmers an der Herbeiführung des Versicherungsfalls beweisen.

Grobe Fahrlässigkeit wird allgemein im Versicherungsvertragsrecht dann als gegeben erachtet, wenn schon einfachste, naheliegende Überlegungen nicht angestellt und Maßnahmen nicht ergriffen werden, die jedermann einleuchten müssen; wenn jedenfalls völlige Gleichgültigkeit gegen das vorliegt, was offenbar unter den gegebenen Umständen hätte geschehen müssen. Grobe Fahrlässigkeit setzt also ein Verhalten voraus, von dem der Versicherungsnehmer wusste oder wissen musste, dass es geeignet ist, die Gefahr des Eintritts eines Versicherungsfalls herbeizuführen oder zu vergrößern.

Die Zusammenschau der der Klägerin vom Erstgericht vorgeworfenen Verhaltensweisen ergibt kein Verschulden in einem derartigen Ausmaß: Dass die elektronisch verschlossene Eingangstür durch bloßes Aufdrücken der Zarge geöffnet werden konnte war dem Geschäftsführer der Klägerin bis zum gegenständlichen Vorfall nicht bewusst. Ein Tragen des Alarmtasters hätte an dem binnen 40 Sekunden abgeschlossenen Raubüberfall nichts zu ändern vermocht und das sichtbare Dekorieren des Schaufensters vermag – ausgehend davon, dass die Klägerin zu diesem Zeitpunkt auf eine elektronisch gesicherte Tür vertrauen durfte – für sich genommen einen Vorwurf grober Fahrlässigkeit nicht begründen. Die von der Beklagten in ihrer Revisionsbeantwortung ins Treffen geführte besondere Helligkeit der Beleuchtung – oder das Dekorieren besonders wertvoller Schmuckstücke – mag zwar die Aufmerksamkeit von Passanten anziehen, das begünstigt aber nicht unbedingt einen Überfall, der bevorzugt nicht vor aller Augen stattfinden soll. Der Versicherungsfall wurde daher von der Klägerin insgesamt nicht grob fahrlässig herbeigeführt, weshalb die Beklagte nicht aufgrund dieses Umstands leistungsfrei ist.

Ein Klagebegehren ist rechtlich schlüssig, wenn das Sachbegehren des Klägers materiell-rechtlich aus den von ihm zu seiner Begründung vorgetragenen Tatsachenbehauptungen abgeleitet werden kann. Die Schlüssigkeit verlangt nicht, dass der gesamte „Tatbestand“ vorgetragen wird, sondern es genügt, wenn die rechtserzeugenden Tatsachen vollständig und knapp angeführt werden. Ein Verweis auf vorgelegte Urkunden kann im Einzelfall ausreichen; die einzelnen Positionen und die ihnen zugeordneten Beträge müssen dann nicht auch in der Klageerzählung ziffernmäßig angeführt werden. Vor diesem Hintergrund hat die Klägerin im hier zu beurteilenden Einzelfall durch den Verweis auf die detaillierte Schadensaufstellung in ihrem vorbereitenden Schriftsatz ihren geltend gemachten Gesamtschaden – gerade noch – schlüssig zur Darstellung gebracht.

Auf eine – in erster Instanz in ihrem Vorbringen zumindest angedeutete – Kündigungspflicht der Beklagten (Klarstellungserfordernis) ist die Klägerin bereits im Rahmen ihrer Berufung nicht zurückgekommen. Eine in einem selbständig beurteilbaren Teilbereich in zweiter Instanz unterlassene Rechtsrüge kann aber in der Revision nicht nachgeholt werden. Eine weitere Auseinandersetzung damit erübrigt sich daher.

Es ist Sache des Versicherers, den objektiven Tatbestand einer Obliegenheitsverletzung nachzuweisen. Unter einer Obliegenheitsverletzung ist nicht jeder Verstoß gegen Verpflichtungen, die dem Versicherungsnehmer obliegen, zu verstehen. Vielmehr muss es sich um eine Verletzung solcher besonderer Pflichten handeln, die unter der Sanktion der Leistungsfreiheit stehen. Obliegenheiten müssen ausdrücklich vereinbart sein. Bei vertraglich vereinbarten Obliegenheiten müssen auch die Verletzungsfolgen vertraglich vereinbart sein. An die Klarheit der Vereinbarung von Verletzungsfolgen sind strengste Anforderungen zu stellen.

Die Beklagte hat sich in erster Instanz auf § 13 und § 14 der in ihren AVB RWL´08 enthaltenen vor- und nachvertraglichen Obliegenheiten berufen sowie auf die vereinbarte Anwendung österreichischen Rechts. Sowohl in § 13 als auch in § 14 der AVB wird zu den Folgen der Obliegenheitsverletzungen auf das deutsche VVG verwiesen. Die Beklagte bringt aber in erster Instanz selbst vor, die Voraussetzungen für ihre Leistungsfreiheit würden sich aus § 6 (des österreichischen) VersVG ergeben; die Klägerin hat dazu in erster Instanz nichts vorgebracht. Im Rahmen ihrer Revision stützt sich die Klägerin einerseits auf eine nicht wirksame Vereinbarung von Obliegenheiten; im Übrigen geht sie von einer Geltung der deutschen Bestimmungen aus.

Damit bleibt im Ergebnis unklar, ob überhaupt eine wirksame Vereinbarung von Obliegenheiten vorliegt, die zur Leistungsfreiheit der Beklagten führen können. Da dieser Umstand im erstinstanzlichen Verfahren unerörtert blieb, ist die Aufhebung des Ersturteils unvermeidlich.

Gegenstand des fortgesetzten Verfahrens ist damit nur noch die Frage der von der Beklagten ins Treffen geführten Obliegenheitsverletzungen.

In diesem Zusammenhang wird das Erstgericht mit den Parteien zu erörtern haben, ob die Leistungsfreiheit der Beklagten im Fall einer Obliegenheitsverletzung wirksam vereinbart wurde und bejahendenfalls nach welchem Regime (VersVG/VVG) sich die Voraussetzungen der Leistungsfreiheit richten und daran anschließend allenfalls die Frage der schuldhaften Verletzung von Obliegenheiten durch die Klägerin zu beurteilen haben.

Unsere Meinung dazu

Beide Unterinstanzen sind davon ausgegangen, dass der Versicherungsnehmer grob fahrlässig gehandelt hat und die Versicherung dadurch leistungsfrei geworden ist. Nicht so der OGH. Er hat dankenswerterweise klargestellt, dass man sich auf eine elektronisch gesicherte Eingangstür verlassen darf und auch die Dekoration einer hell erleuchteten Auslage nahe den Öffnungszeiten keine grobe Fahrlässigkeit darstellen. Zu Recht, denn nur wirklich einleuchtende Sorglosigkeit soll als grobe Fahrlässigkeit gelten.