Schutzpflichten und ÖNORMEN
Ferdinand Bachinger
Admin | 23. April 2023
OGH vom 15.03.2023, 3 Ob 10/23a:
Die Klägerin kam beim Betreten des Geschäftslokals der Beklagten zu Sturz und verletzte sich, weil sich die automatische Tür aufgrund einer Fehlfunktion schloss, während sie gerade eintrat, weshalb sie, ohne dass sie ausweichen hätte können, von den Hauptschließkanten der sich schließenden Türflügel getroffen wurde.
Den Inhaber eines Geschäfts trifft gegenüber einer Person, die das Geschäft als Kunde betritt, die (vor-)vertragliche Pflicht, für die Sicherheit des Geschäftslokals zu sorgen. Er hat die seiner Verfügung unterliegenden Anlagen, die er seinen Kunden überlässt, in einem verkehrssicheren und gefahrlosen Zustand zu halten und muss alle Gefahrenquellen, die sich aus dem Geschäftsbetrieb ergeben, ausschalten. Der Verkehrssicherungspflichtige muss den Verkehrsbereich für die befugten Benützer in verkehrssicherem und gefahrlosem Zustand erhalten und diese vor Gefahren schützen. Diese Verpflichtung findet ihre Grenze einerseits in der Erkennbarkeit der Gefahr und andererseits in der Zumutbarkeit ihrer Abwehr.
Auch vertragliche Verkehrssicherungspflichten sollen aber nicht überspannt werden. Welche Sicherungsmaßnahmen zumutbar und erforderlich sind, hängt immer von den Umständen des Einzelfalls ab. Die dabei zu treffende Einzelfallbeurteilung ist für den Obersten Gerichtshof nur dann überprüfbar, wenn im Interesse der Rechtssicherheit ein grober Beurteilungsfehler korrigiert werden müsste.
Die automatische Türanlage im Lokal der Beklagten entsprach zwar zur Zeit ihrer Errichtung (im Jahr 2000) dem Stand der Technik. Mit Dezember 2012 – rund fünfeinhalb Jahre vor Eröffnung des Geschäfts durch die Beklagte – trat jedoch eine neue ÖNORM in Kraft, nach der ein solches Türsystem über einen Anwesenheitsmelder verfügen muss. Dabei handelt es sich um eine Sicherheitseinrichtung, die das Schließen der Tür verhindert, wenn sich in einem Bereich von 20 cm vor bzw hinter der Tür ein zumindest 30 cm breiter und 70 cm hoher Gegenstand befindet. Ein Anwesenheitsmelder erhöht die Sicherheit gegenüber einem – bei der Anlage der Beklagten entsprechend dem seinerzeitigen Stand der Technik vorhandenen – Lichtschranken, weil er einen größeren Bereich abdeckt. Es ist mit höchster Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass sich der Unfall der Klägerin nicht ereignet hätte, wenn die Tür den Sicherheitsstandards dieser Norm entsprochen hätte, weil der Anwesenheitsmelder einen Zusammenstoß mit einem Türflügel verhindert hätte. Die Beklagte wurde im Zuge der jährlichen Überprüfungen der Türanlage mehrfach darauf hingewiesen, dass die Anlage nicht dem aktuellen Stand der Technik entspricht.
Es trifft zwar zu, dass die neue ÖNORM für Altbestand – und damit auch die Anlage der Beklagten – nicht gilt. Bei der Abgrenzung der aus einer (vor-)vertraglichen Sonderverbindung entspringenden Schutz- und Sorgfaltspflichten werden durch die einschlägigen öffentlich-rechtlichen Vorschriften und die von den Verwaltungsbehörden erteilten Bewilligungen allerdings im Einzelfall die Grenzen der verkehrsüblichen und vom Erwartungshorizont der beteiligten Kreise als zumutbar umfassten Anforderungen nicht schlechthin abgesteckt, sondern lediglich der Mindeststandard der dem Verantwortlichen obliegenden Sicherheitsvorkehrungen umrissen. Trotz einer einmal erteilten Benützungsbewilligung ist daher die bauliche Sicherheit laufend zu überprüfen, die Baulichkeiten sind dem Ergebnis der Kontrolle entsprechend einwandfrei instandzusetzen und es ist ganz allgemein der für die körperliche Sicherheit der Benutzer maßgebliche, nach einschlägigen Gesetzen und anderen Vorschriften, aber auch nach dem jeweiligen Stand der Technik geltende Mindeststandard durch zumutbare Verbesserungsarbeiten einzuhalten. Dieser Mindeststandard ist herzustellen, sofern die Vorschriften die Sicherheitsanforderungen verschärfen.
Die Überprüfungsberichte bezüglich der Türanlage enthielten zwar, wie das Berufungsgericht zutreffend hervorgehoben hat, keinen expliziten Hinweis darauf, inwiefern das Türsystem nicht mehr dem Stand der Technik bzw der (konkret angeführten) ÖNORM entsprach. Allerdings fand sich im Überprüfungsbefund vom 30. Oktober 2018 insbesondere der Hinweis, dass für einen erhöhten Personenschutz „Lichtvorhänge“ (dabei handelt es sich um zahlreiche kleine, nebeneinander angeordnete Lichtschranken) empfohlen würden. Damit bestand aber für die Beklagte bei gehöriger Aufmerksamkeit ein ausreichender Hinweis darauf, dass ihre Anlage, insbesondere was den Schutz der sie benützenden Personen – also ihrer Kunden wie auch ihrer Mitarbeiter – anlangt, nicht mehr auf dem neuesten Stand der Technik war. Dass das Berufungsgericht unter diesen Umständen die Auffassung vertrat, die Beklagte wäre gehalten gewesen, nähere Erkundigungen über den aktuellen Stand der Technik einzuholen (und im Anschluss die zur Erhöhung des Personenschutzes gebotenen Maßnahmen durchführen zu lassen), stellt keine vom Obersten Gerichtshof aufzugreifende Fehlbeurteilung dar. Angesichts der festgestellten Kosten des nachträglichen Einbaus eines Anwesenheitsmelders von bloß 200 bis 250 EUR kann von einer Unzumutbarkeit für die Beklagte keine Rede sein.
Unsere Meinung dazu
Die Weisheit des OGH hätte es in diesem Fall wohl kaum gebraucht. Wenn jemand einen Geschäftsraum für Kunden zugänglich macht, dann muss er auch dafür sorgen, dass dies gefahrlos möglich ist. Das trifft vor allem auch auf technische Vorrichtungen zu. Man würde ja auch nicht meinen, dass ungeerdete Steckdosen in einem Verkaufsraum bleiben dürfen, nur weil der Verkaufsraum Jahrzehnte vorher so genehmigt worden ist. Den Stand der Technik muss jeder Geschäftsinhaber im Auge haben. Das trifft nicht nur auf den Handel zu sondern auf alle Geschäftsräume, die für potentielle Kunden gedacht sind.