Schutzzweck eines Überholverbots

Ferdinand Bachinger
Admin | 21. Jänner 2023
OGH vom 13.12.2022, 2 Ob 218/22f:
Am 20. 9. 2020 ereignete sich auf einer Landesstraße in der Steiermark im Freilandgebiet ein Verkehrsunfall zwischen einem vom Kläger gelenkten Motorrad und einem bei der Beklagten haftpflichtversicherten PKW. Der mit 60 bis 70 km/h fahrende Kläger begann bei Tageslicht und trockener Fahrbahn, den mit 40 bis 50 km/h fahrenden PKW zu überholen. Als sich der Kläger mit seinem Motorrad bereits links neben dem PKW befand, begann dessen Lenker plötzlich mit einem Linksabbiegemanöver in einen in die Landesstraße einmündenden Weg. Der Lenker des PKW hatte seine Absicht, nach links abzubiegen, nicht angezeigt; er hätte den Kläger bei einem Blick in den linken Außenspiegel in Überholposition wahrnehmen können. Für den Kläger war der Unfall bei Erkennbarkeit des Linksabbiegemanövers nicht mehr zu vermeiden.
Der Schutzzweck der Überholverbote nach § 16 Abs. 1 lit. a bis c und Abs. 2 lit. b StVO besteht nach der Rechtsprechung grundsätzlich nicht nur darin, den Gegenverkehr gefahrlos zu ermöglichen, sondern auch darin, all jene Schäden zu verhindern, die beim Überholvorgang während des Vorbeibewegens an dem überholten Fahrzeug und beim Wiedereinordnen nach dem Überholen entstehen können.
Der Senat hat jedoch bereits ausgesprochen, dass § 16 Abs. 1 lit. c StVO nicht den Schutz des Verkehrsteilnehmers bezweckt, der in dieselbe Richtung fährt und vorschriftswidrig nach links abbiegt, weil die vom plötzlichen Linksabbiegen ausgehende Gefahr mit der aus der Unabsehbarkeit der Möglichkeit zum Wiedereinordnen resultierenden Gefahr in keinem Zusammenhang steht. Gleiches gilt für die Bestimmung des § 16 Abs. 1 lit. b StVO, weil eine hohe Geschwindigkeitsdifferenz zwischen Überholendem und überholtem Fahrzeug in der Regel schwerwiegendere Folgen bei einem Zusammenstoß als Folge eines vorschriftswidrigen Linksabbiegens haben wird als eine geringe Differenzgeschwindigkeit.
Diese Überlegungen lassen sich auch auf den hier zu beurteilenden Verstoß nach § 16 Abs. 2 lit. b StVO übertragen. Diese Bestimmung soll andere Verkehrsteilnehmer vor der Gefahr schützen, die daraus resultiert, dass trotz ungenügender Sicht oder unübersichtlicher Straßenstelle ein Überholmanöver begonnen wird (und nicht rechtzeitig zum Abschluss gebracht werden kann). Diese Gefahr ist der aus der Unabsehbarkeit der Möglichkeit zum rechtzeitigen Wiedereinordnen (§ 16 Abs. 1 lit. c StVO) resultierenden vergleichbar. Ein Zusammenhang mit der vom plötzlichen Linksabbiegen ausgehenden Gefahr ist somit zu verneinen.
§ 16 Abs. 2 lit. b StVO bezweckt nicht den Schutz eines Verkehrsteilnehmers, der in dieselbe Richtung wie das überholende Fahrzeug fährt und vorschriftswidrig nach links abbiegt.
Da der vorschriftswidrig nach links abbiegende Lenker des PKW nicht vom Schutzzweck des Überholverbots nach § 16 Abs. 2 lit. b StVO umfasst war, liegen weder sekundäre Feststellungsmängel zum weiteren Verlauf der Straße und den genauen Sichtverhältnissen noch ein relevanter Mangel des Berufungsverfahrens vor.
Unsere Meinung dazu
Derartige Themen sind ein Dauerbrenner bei Verkehrsunfällen. Beide Verkehrsteilnehmer machen offensichtlich Fehler. Der Überholende hätte nicht überholen dürfen, der Überholte biegt vorschriftswidrig nach links ab. Eigentlich ein Fall von Teilschuld. Nicht so in diesem Fall. Hier ist allein der Linksabbieger schuld, weil der Schutzzweck der Überholverbote nach der StVO in keinem Zusammenhang mit der Gefahr steht, die von einem plötzlichen Linksabbiegen ausgeht. Klingt nicht sehr schlüssig, überzeugt bei näherer Betrachtung aber. Überholverbote sollen nur vor solchen Gefahren schützen, die sich aus dem Überholvorgang (selbst) ergeben können. Das betrifft in erster Linie den Gegenverkehr und das Wiedereinordnen am Ende des Überholvorgangs. Eine ganz andere Gefahr verwirklicht sich dagegen durch vorschriftswidriges plötzliches Linksabbiegen. Diese Übertretung soll nicht dadurch relativiert werden, dass ein anderer Verkehrsteilnehmer etwa zu schnell fährt oder eben überholt. Die eine Gefahr hat mit der anderen nichts zu tun. Darum 1:0.