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Auffahrunfall

Auffahrunfall bei Vollbremsung

OGH vom 27.09.2022, 2 Ob 131/22m (auzugsweise):
[...] Gemäß § 21 Abs. 1 StVO darf ein Lenker sein Fahrzeug nicht jäh und für den Lenker eines nachfolgenden Fahrzeugs überraschend abbremsen, wenn andere Straßenbenützer dadurch gefährdet oder behindert werden, es sei denn, dass es die Verkehrssicherheit erfordert. Wenn es die Verkehrssicherheit erfordert, darf daher auch jäh und überraschend abgebremst werden.

Fest steht, dass der Lenker des Beklagtenfahrzeugs verkehrsbedingt jäh bremste. Ungeklärt blieb, ob die jähe Bremsung allenfalls aufgrund der Einhaltung eines zu geringen Tiefenabstands notwendig wurde.

Dass sich ein Lenker, der sich „verschuldet“ in eine Situation gebracht hat, die dann eine plötzliche starke Bremsung erforderlich macht, nicht auf die Notwendigkeit einer „verkehrsbedingten“ Bremsung berufen kann, bedeutet nicht, dass der Bremsende im Rahmen des ihm bei objektiv nachgewiesener Schutzgesetzverletzung obliegenden Beweises mangelnden Verschuldens auch nachzuweisen hätte, dass ihm kein zur „verkehrsbedingten“ Bremsung führendes (weiteres) verkehrswidriges Verhalten (bspw Reaktionsverzögerung, Verstoß gegen § 18 Abs. 1 StVO, überhöhte Geschwindigkeit, Nichtbeachtung einer unklaren Verkehrslage, etc) zur Last liegt.
Entsprechend der Beweislastverteilung im von § 21 Abs. 1 StVO vorgegebenen Regel-Ausnahme-Verhältnis obliegt dem Geschädigten der Beweis einer „jähen“ und „überraschenden“ Bremsung und dem Bremsenden der (Entlastungs-)Beweis, dass die Verkehrssicherheit eine solche erforderlich gemacht hat. Für die Gegenausnahme, dass das verkehrsbedingte, für die Verkehrssicherheit erforderliche Bremsen auf ein (weiteres) Fehlverhalten des Bremsenden beruht, ist aber entsprechend dem allgemeinen Grundsatz, dass jeder die für ihn günstigen Normen zu behaupten und zu beweisen hat, wieder der Geschädigte beweispflichtig. Sofern das (weitere) verkehrswidrige Verhalten auf eine Schutzgesetzverletzung gestützt ist, reicht wieder der Nachweis der objektiven Übertretung. Allfällige Beweisschwierigkeiten im Rahmen des Nachweises einer Übertretung des § 18 Abs. 1 StVO aufgrund der Undurchsichtigkeit des Beklagtenfahrzeugs rechtfertigen eine Verschiebung der Beweislast nicht.

Nach gefestigter Rechtsprechung ist beim Hintereinanderfahren ein Sicherheitsabstand, der etwa der Länge des Reaktionswegs entspricht, als ausreichend zu bezeichnen, sofern nicht Umstände hinzutreten, die einen größeren Sicherheitsabstand geboten erscheinen lassen. Aufmerksamkeit, Geschwindigkeit und Sicherheitsabstand zum vorausfahrenden Fahrzeug stehen beim Lenken eines Kraftfahrzeugs in einem untrennbaren Zusammenhang. Konnte der nachfahrende Lenker sein Fahrzeug hinter einem plötzlich abgebremsten Fahrzeug nicht mehr rechtzeitig anhalten, war entweder der eingehaltene Sicherheitsabstand zu gering oder er hat verspätet reagiert. Wenn das Berufungsgericht daher in der zu schwach ausgefallenen Bremsung ein Fehlverhalten der Klägerin erblickt, ist dies nicht korrekturbedürftig. Entweder war der Sicherheitsabstand nach den Umständen eben doch zu gering oder die Reaktion verspätet. Dass die durch die starke Bremsung begründete gewöhnliche Betriebsgefahr durch das Verschulden der Klägerin zurückgedrängt wird, ist ebenfalls durch die Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs gedeckt.

Unsere Meinung dazu

Der Satz der mit "Dass sich ein Lenker, der sich verschuldet..." beginnt, ist auch für geübte Juristen kaum lesbar und nur schwer verständlich. Muss man aber auch nicht. Der OGH beschreibt nur das Regel-Ausnahme-Gegenausnahme-Prinzip, das hier aber gar nicht erst zum Tragen gekommen ist.
Der OGH führt in recht einfachen Worten aus, dass der Nach- und in der Folge Auffahrende beweisen muss, dass der Vorausfahrende "jäh und überraschend gebremst" und damit den Auffahrunfall verschuldet hat. Kann er das nicht bzw. greift die Ausnahmeregelung (wie hier), dass zwar jäh und überraschend gebremst worden ist, die Verkehrssicherheit diese Bremsung aber erforderlich gemacht hat, kommt das vom OGH dargestellte Prinzip zum Tragen: Bei einem Auffahrunfall war entweder der eingehaltene Sicherheitsabstand zu gering oder der Auffahrende hat verspätet reagiert. Diese klare Aussage überzeugt. Ein Verschulden oder auch nur eine Teilschuld des Vorausfahrenden anzunehmen, stellt die Gegenausnahme zum Regel-Ausnnahme-Verhältnis dar und muss vom Auffahrenden bewiesen werden. Dass er das in den meisten Fällen nicht kann, wird vom Gesetz und der Rechtsprechnung in Kauf genommen.