Laesio enormis bei Bestandsverträgen

Ferdinand Bachinger
Admin | 24. August 2025
OGH vom 22.07.2025, 4 Ob 90/25a:
[1] Mit Bestandvertrag vom 19. November 2021 gab der Kläger den Beklagten einen Gastronomiebetrieb samt Vinothek (in der Folge: Bestandobjekt) ab 1. März 2022 auf unbestimmte Zeit in Bestand. Die Beklagten zahlten den vereinbarten Bestandzins bis einschließlich Februar 2024; ab März 2024 leisteten sie keine Zahlungen mehr.
[2] Der Kläger begehrt die Räumung des Bestandobjekts. Einerseits liege ein erheblicher Bestandzinsrückstand vor, den er bereits eingemahnt und gesondert eingeklagt habe; andererseits machten die Beklagten vom Bestandobjekt einen erheblich nachteiligen Gebrauch. Es sei unrichtig, dass der Bestandvertrag wegen laesio enormis ex tunc nichtig und der Bestandzins daher nicht zu zahlen sei. Da auch die Beklagten die Aufhebung des Bestandvertrags behaupteten, seien sie auch aus diesem Grund zur Zurückstellung des Bestandobjekts verpflichtet. Den Beklagten stehe gemäß §§ 1109, 1440 ABGB weder ein Zurückbehaltungsrecht am Bestandobjekt noch die Aufrechnung mit angeblichen Gegenforderungen zu. Auch im Bestandvertrag sei ein Kompensationsverbot vereinbart worden.
[3] Die Beklagten bestreiten das Räumungsbegehren und wenden zusammengefasst ein, der Bestandvertrag sei aufgrund des Vorliegens der Voraussetzungen des § 934 ABGB ex tunc nichtig. Bei erfolgreicher Anfechtung wegen laesio enormis hätten die Beklagten aufgrund der Rückabwicklung des Vertrags einen Anspruch gegen den Kläger auf Rückzahlung des zu viel bezahlten Bestandzinses. Aufgrund des ihnen zukommenden Zurückbehaltungsrechts sei das Bestandobjekt erst Zug um Zug gegen Begleichung des Rückzahlungsanspruchs „herauszugeben“. Mangels Vorliegens eines Bestandvertrags seien die Sondernormen der §§ 1109, 1440 ABGB nicht anwendbar.
[4] Das Erstgericht gab dem Klagebegehren statt, weil die Beklagten das Bestandobjekt auch wenn sie mit ihrem auf § 934 ABGB gestützten Aufhebungsbegehren durchdringen, zurückstellen müssten.
[5] Das Berufungsgericht hob das Ersturteil über Berufung der Beklagten auf und trug dem Erstgericht eine neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung auf. Es führte zusammengefasst aus, für den Fall, dass die Beklagten mit ihrer Anfechtung wegen laesio enormis Erfolg hätten, könnten sie dem Räumungsbegehren des Klägers entgegenhalten, dass sie nur Zug um Zug gegen Rückzahlung des zuviel gezahlten Bestandzinses zur Räumung verpflichtet wären. Das Verfahren sei daher insofern mangelhaft geblieben, als das Erstgericht keine Feststellungen zur Berechtigung des Aufhebungsbegehrens getroffen habe.
[6] Das Berufungsgericht ließ den „ordentlichen Revisionsrekurs“ zu, weil keine ständige Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zur Frage der Rückabwicklung eines wegen laesio enormis aufgehobenen Bestandvertrags bestehe.
Rechtliche Beurteilung
[7] Der vom Kläger dagegen erhobene „außerordentliche Revisionsrekurs“ ist – ungeachtet seiner unrichtigen Bezeichnung (RS0036258) – als Rekurs nach § 519 Abs 1 Z 2 ZPO zu behandeln. Er ist aber – entgegen dem den Obersten Gerichtshof nicht bindenden (§ 526 Abs 2 ZPO) Ausspruch des Berufungsgerichts – mangels Aufzeigens einer Rechtsfrage von der Qualität des § 502 Abs 1 ZPO nicht zulässig.
[8] 1. Der Rekurs zieht nicht in Zweifel, dass § 934 ABGB auch auf Dauerschuldverhältnisse (und somit auch auf Bestandverträge) anzuwenden ist (vgl etwa 8 Ob 567/93 = MietSlg 45.065), eine Vertragsaufhebung wegen laesio enormis nach jüngerer Rechtsprechung schuldrechtlich und sachenrechtlich ex tunc wirkt (vgl 10 Ob 3/21w Rz 37 mwN) und sich aus der Aufhebung des Vertrags die wechselseitige Verpflichtung der Vertragsteile zur Rückabwicklung ergibt, wobei die Kondiktionsansprüche – wenn wie hier seitens der Beklagten eine entsprechende Einwendung erhoben wurde – nur Zug um Zug zu erfüllen sind (RS0016362 [insb T7] zur Auflösung wegen Verkürzung über die Hälfte).
[9] 2. Das Berufungsgericht stützte seine Rechtsansicht, dass den Beklagten bei erfolgreicher Beseitigung des Bestandvertrags wegen Verkürzung über die Hälfte ein Zurückbehaltungsrecht am Bestandobjekt zukomme, primär darauf, dass das Zurückbehaltungs- und Aufrechnungsverbot des Bestandnehmers nach §§ 1109 Satz 2, 1440 ABGB bei der Rückabwicklung des Bestandverhältnisses in diesem Fall nicht anwendbar sei. Eine Anwendbarkeit der Bestimmungen setzt nämlich voraus, dass der Rückstellungsanspruch betreffend das Bestandobjekt aus einem Bestandvertrag abgeleitet werde, dass also zunächst überhaupt ein gültiges Bestandverhältnis bestanden habe. Dies wäre aber bei Durchdringen der Beklagten mit ihrer Einrede nach § 934 ABGB zu verneinen, weil dadurch der Bestandvertrag schuldrechtlich und sachenrechtlich ex tunc wegfiele.
[10] Dem hält der Rekurs bloß pauschal entgegen, dass §§ 1109, 1440 ABGB auch bei einer Auflösung des Bestandverhältnisses nach § 934 ABGB anwendbar seien, ohne näher darzulegen, aus welchen Gründen die rechtliche Beurteilung durch das Berufungsgericht unrichtig sein soll, sodass eine Überprüfung der im angefochtenen Beschluss vertretenen Rechtsansicht nicht stattfinden kann (vgl RS0043654 [insb T14, T15]). Auch durch den bloßen Verweis auf eine (im Rekurs nicht näher dargestellte) „ständige Rechtsprechung“ wird keine erhebliche Rechtsfrage aufgezeigt (vgl RS0042779).
[11] Aus den im Rekurs zitierten Entscheidungen 1 Ob 498/35 = SZ 17/134 und 10 Ob 3/21w ist für den Rechtsstandpunkt des Klägers nichts zu gewinnen. Sie behandeln jeweils nicht die Frage, ob ein gesetzliches Zurückbehaltungs- und Aufrechnungsverbot auch nach Aufhebung des Vertrags wegen Verkürzung über die Hälfte gilt.
[12] 3. Der Rekurs wendet sich gegen eine Vergleichbarkeit einer Vertragsaufhebung wegen mangelnder Geschäftsfähigkeit und mangelnder Einwilligung (Irrtum, Dissens) mit einer Aufhebung wegen laesio enormis. Dabei übersieht er aber, dass der Verweis des Berufungsgerichts auf die Zug um Zug zu erfolgende Rückabwicklung in anderen Fällen der ex-tunc-Beseitigung eines Bestandvertrags nicht das tragende Argument für die fehlende Anwendbarkeit der §§ 1109, 1440 ABGB nach Beseitigung des Vertrags wegen Verkürzung über die Hälfte ist. Unterliegt aber – wie hier – schon die vom Berufungsgericht primär herangezogene Begründung mangels Vorliegens einer erheblichen Rechtsfrage nicht der inhaltlichen Nachprüfung durch den Obersten Gerichtshof, so kann die Richtigkeit einer vom Berufungsgericht nur hilfsweise herangezogenen Begründung ebenfalls nicht an den Obersten Gerichtshof herangetragen werden (RS0042736 [T2]; vgl auch RS0088931).
[13] 4. Der Vertrag ist bei seiner Aufhebung nach § 934 ABGB so zu betrachten, als ob er nie zustande gekommen wäre (10 Ob 3/21w Rz 37 mwN). Weshalb sich der Kläger vor diesem Hintergrund – entgegen den Ausführungen des Berufungsgerichts – bei erfolgreicher Vertragsanfechtung durch die Beklagten ihnen gegenüber weiterhin auf das vertraglich vereinbarte Kompensationsverbot berufen können sollte, führt der Rekurs nicht schlüssig aus.
[14] 5. Einer weiteren Begründung bedarf diese Zurückweisung nicht (§ 528a iVm § 510 Abs 3 Satz 3 ZPO).
[15] 6. Die Kostenentscheidung gründet sich auf §§ 41, 50 ZPO. Der vom Berufungsgericht ausgesprochene Kostenvorbehalt steht einer Kostenentscheidung hier nicht entgegen. Im Zwischenstreit über die mangels erheblicher Rechtsfragen verneinte Zulässigkeit des Rekurses gegen einen Aufhebungsbeschluss des Berufungsgerichts iSd § 519 Abs 1 Z 2 ZPO findet ein Kostenvorbehalt nach § 52 ZPO nicht statt (3 Ob 25/23g mwN; RS0123222). Die Beklagten haben auf die Unzulässigkeit des Rekurses hingewiesen.
Unsere Meinung dazu
Die Anfechtung eines Bestandsvertrages wegen Verkürzung über die Hälfte (Laesio enormis) kommt selten vor. Leider hat die gegenständliche Entscheidung das Verfahren nicht beendet. Die erste Instanz muss sich mit den maßgeblichen Sachverhalts- und Rechtsfragen nochmals befassen. Der OGH hat allerdings ausgesprochen, dass bei erfolgreicher Vertragsanfechtung die Klauseln des ursprünglichen Bestandvertrags keine Wirkung mehr haben. Insofern würde er Bestandnehmer mit berechtigten Kompensations- und Zurückbehaltungseinreden durchdringen. Das ist insofern interessant, als man derartige Rechte bei Bestandsachen üblicherweise nie geltend machen kann. Wenn der Vermieter aber zu gierig war, dann droht ihm auch von dieser Seite Ungemach.